Wartranslated: Dmitri, der Dolmetscher des Krieges in der Ukraine (2024)

Mit seinen Übersetzungen erreicht der junge Mann aus Estland in den sozialen Netzwerken ein Millionenpublikum. Geld will er für seine Arbeit nicht. Etwas anderes treibt ihn an.

Jonas Roth

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Tag für Tag flimmern neue Bilder aus dem Krieg über die Bildschirme. Die zerbombten Schlachtfelder von Bachmut, die desolaten Zustände in russischen Kasernen, der Alltag in schlammigen Schützengräben – die Geschehnisse des Konfliktes lassen sich auf Twitter, Telegram und Tiktok beinahe in Echtzeit und ungefiltert mitverfolgen. Doch wer kein Russisch oder Ukrainisch versteht, ist in der Flut der Bilder schnell verloren.

Dmitri spricht Russisch und versteht Ukrainisch. Der 32-jährige Marketingfachmann aus Estland hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Öffentlichkeit an seinen Sprachkenntnissen teilhaben zu lassen. Jeden Tag verbringt er Stunden damit, Videos mit englischen Untertiteln zu versehen oder die Telegram-Einträge von russischen Militär-Bloggern oder ukrainischen Soldaten zu übersetzen. Auch abgehörte Telefongespräche zwischen russischen Soldaten und ihren Angehörigen, die der ukrainische Militärgeheimdienst publiziert, überträgt er ins Englische. Seine Übersetzungen veröffentlicht er auf seinem Twitter-Profil und seiner Website.

Dmitri, der nur mit seinem Vornamen auftreten möchte, bedient damit offensichtlich eine grosse Nachfrage. Sein Projekt mit dem Namen «Wartranslated» hat Erfolg. 275000 Personen folgen ihm mittlerweile auf Twitter, unter ihnen Militärexperten, Politikerinnen und Akademiker. Seine Posts erreichen regelmässig mehr als eine Million Zuschauer. Auch viele Medien, darunter die BBC, der «Guardian» und die NZZ, stützen sich auf seine Arbeit und binden etwa seine Videos in Artikel ein.

«Es ist schon verrückt», sagt er im Gespräch. «Bevor all das begann, war ich ein ganz normaler Typ. Das bin ich ja immer noch. Aber es ist schön, dass so viele Leute meine Arbeit schätzen.»

Am Anfang war der fluchende Kapitän

Ursprünglich stammt Dmitri aus der estnischen Hauptstadt Tallinn, wo er als Angehöriger der russischsprachigen Minderheit im Land aufgewachsen und zur Schule gegangen ist. Schon als Kind habe er sich für Militärisches und Konflikte interessiert, erzählt er. Seine Heimat hat er inzwischen verlassen – «es ist zu kalt da» – und lebt heute im Vereinigten Königreich. Er hat in Aberdeen studiert und wohnt nun in London, wo er an vier Tagen pro Woche für einen Videospielhersteller im Marketing arbeitet. Der britische Akzent ist nach zwölf Jahren auf der Insel nicht mehr zu überhören.

Dennoch nimmt die russische Muttersprache plötzlich wieder eine zentrale Rolle in seinem Leben ein. Noch vor einem Jahr hat nichts darauf hingedeutet, dass er dereinst den überwiegenden Teil seiner Freizeit mit Übersetzungen verbringen würde. «Das Ganze ist eher zufällig passiert», erzählt er. Als am 24.Februar der Krieg begann, verfolgte Dmitri die Geschehnisse über den Kurznachrichtendienst Twitter, wo schon in den ersten Stunden der russischen Invasion zahllose Videos kursierten. «Ich sah, dass manche Nutzer in den Kommentaren fragten: ‹Was wird hier gesagt?› Also hinterliess ich immer wieder kurze Übersetzungen unter den Filmen.»

Am dritten Kriegstag folgte eine Art Durchbruch für ihn. Unter einem Video, in dem ein georgischer Kapitän über Funk die Crew eines russischen Schiffes verflucht, postete er eine Übersetzung. «Dann ging ich kurz einkaufen. Als ich in der Schlange vor der Kasse auf mein Handy schaute, hatte ich schon mehrere tausend Likes und 400 neue Follower.» Auch Journalisten hätten gefragt, ob sie seine Arbeit verwenden dürften.

50 Tweets am Tag

Der Erfolg sp*rnte ihn an. Er investierte immer mehr Zeit in seine Übersetzungen. Er durchforstete nun auch das in Russland und der Ukraine beliebte Netzwerk Telegram nach interessanten Inhalten, um sie in übersetzter Form zu veröffentlichen. Jeden Tag investiert er Stunden in die Suche nach neuem Material.

Dabei frage er sich stets, welchen Mehrwert er seinem vorwiegend proukrainischen Publikum bieten könne, sagt Dmitri. «Die Leute wollen wissen, was an der Front geschieht, sie wollen Zugang zu Informationen, an die sie selbst nicht kommen – und sie wollen sehen, wie schlecht es den Russen ergeht.» Er sei sich bewusst, dass er nicht neutral sei, sagt er. Allein die Auswahl der Inhalte stelle eine gewisse Parteinahme dar. «Aber in erster Linie will ich eine Quelle sein. Ich stelle Informationen zur Verfügung. Jeder soll selber entscheiden, was er damit macht.»

Mobilised from the Novosibirsk Oblast are asking for the help of their relatives because they're "unable to do anything". Apparently, they just sit in trenches for months waiting for "arrivals". Their phones are jammed so they couldn't make any calls. pic.twitter.com/7U7cxEB8u6

— Dmitri (@wartranslated) January 12, 2023

Sein Output ist mitunter enorm. Nach eigenen Angaben hat er allein im September 1500 Tweets abgesetzt – 50 pro Tag. «Im November war ich dann so müde, dass ich wochenlang nichts mehr übersetzen wollte», erzählt er. Die ständige Konfrontation mit Szenen voller Tod und Gewalt mache ihm aber nichts aus.

Mittlerweile hat sich um den Kriegsdolmetscher ein Team von sechs Freiwilligen gebildet, die ihm etwa dabei helfen, den täglichen Podcast des ehemaligen ukrainischen Präsidentenberaters Olexi Arestowitsch zu übersetzen. Auch Dmitri selbst verdient mit seiner Arbeit kein Geld, seine Inhalte stellt er kostenlos zur Verfügung. Die wenigen Spenden, die er erhält, würden zum Leben bei weitem nicht reichen. Es gehe ihm ohnehin nicht um Geld, sondern darum, den Leuten zu helfen.

Damit meint er nicht nur seine Follower, die er mit Übersetzungen bedient, sondern auch die Soldaten der ukrainischen Streitkräfte. Um sie zu unterstützen, sammelt er sogar Geld. Dabei hilft ihm seine enorme Reichweite in den sozialen Netzwerken. Kürzlich kamen innert weniger Tage fast 50000 Euro zusammen, mit denen er nun Fahrzeuge, Funkgeräte und Drohnen für Soldaten an der Front besorgen will. Bald will er weitere Spendenkampagnen durchführen.

«Ich weiss einfach, was richtig ist»

Dass Dmitri die Ukraine derart tatkräftig unterstützt, ist jedoch nicht selbstverständlich, wie er selbst eingesteht: «Es hätte auch anders kommen können.» Manche seiner russischsprachigen Bekannten in Estland befürworten den Krieg. Seine Mutter ist Russin, sein Vater Ukrainer; kennengelernt haben sie sich zu Sowjetzeiten. Als Kind hat er mit seinen Eltern beide Länder mehrmals bereist. Auf seine Familie angesprochen, weicht er aus. Es gebe Konflikte, mehr wolle er dazu nicht sagen.

Er habe sich auch schon gefragt, weshalb er selbst so proukrainisch eingestellt sei, sagt er. «Ich denke, das kommt von meinen inneren Überzeugungen dazu, was eine Demokratie ist, was ein gutes Land und gute Menschen ausmacht. Ich weiss einfach, was richtig ist.»

Dmitri geht nicht davon aus, dass der Krieg in absehbarer Zeit endet. Trotzdem will er seine Arbeit weiterführen. «Ich kann nicht einfach aufhören. Ich habe auch eine gewisse Verpflichtung gegenüber meinen Followern», sagt er. Von einer Bürde will er nicht sprechen, denn nach wie vor habe er Freude an dieser Aufgabe, zu der er so unverhofft gekommen ist. «Ich weiss gar nicht, was ich sonst mit meiner Freizeit machen würde.» Längst ist der Krieg zu einem Teil seines Lebens geworden.

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